Referat Forum für Zeitzeugen

Referat 28. August 2007 Aarau (pdf format)

Heute denken viele beim Stichwort „Vietnam“ an eine faszinierende Feriendestination und das ist gut so. Historische Tempel und Pagoden, eindrückliche Landschaften und das Grün der Reisfelder, freundliche Menschen und die Begegnungen mit ihnen sind zweifellos eine Reise wert.

Doch hier, im Forum für Zeitzeugen, möchte ich Ihren Blick auf eine andere Realität lenken: „Kriege enden nicht, wenn keine Bomben mehr fallen und die Kämpfe aufgehört haben. Die Zerstörungen dauern viel länger an, in der Landschaft ebenso wie im Gedächtnis und in den Körpern der Menschen,“ hatten wir im Stockholmer Appell zu den Langzeitfolgen des Krieges in Laos, Kambodscha und Vietnam im Juli 2002 festgehalten. Vietnam war lange Jahre vor allem ein Synonym für einen schrecklichen Krieg. Der damalige Verteidigungsminister Robert Mc Namara, der seine Doktrin viel später als einen „Fehler“ bezeichnet hat, wollte damals das Land „in die Steinzeit zurück bomben“, wie er sich ausdrückte. Dies wurde weit gehend umgesetzt. Auf Vietnam sind Bomben mit mehr Sprengkraft gefallen, als im ganzen 2. Weltkrieg abgeworfen wurden. Guernica total. Die Älteren unter uns erinnern sich an die schrecklichen Bilder, die damals über die Bildschirme des noch jungen Fernsehens in die Stuben flimmerten, Bilder die heftige, Welt weite Proteste auslösten. Vergleichbare Bilder aus dem Irak könnten übrigens zum Nachdenken darüber anregen, wie weit unsere Wahrnehmung abgestumpft ist, aber das ist eine andere Geschichte.

Eine Facette des US-Krieges in Vietnam war zunächst weniger im Vordergrund als Napalm- und andere Bomben. Sie war aber, nicht weniger zerstörerisch. Ihre Hinterlassenschaft hat verheerende Folgen bis heute. Ich spreche von den Dioxin haltigen Herbiziden, das von 1961 bis 1971 über Vietnam versprüht wurde. Was man heute über den chemischen Krieg in Vietnam weiss, ist so gravierend, dass es den Schluss nahe legt, die Geschichtsbücher zu korrigieren: nicht die oft genannte Tonkin-Affäre 1964 markiert Beginn dieses Krieges, der in der westlichen Welt Vietnam-Krieg genannt wird, sondern der Beginn der Sprühflüge.

Leuchten wir diesen Beginn etwas aus: Im Mai 1961 schickte John F. Kennedy seinen Vizepräsidenten Lyndon B. Johnson nach Saigon, um mit dem südvietnamesischen Präsidenten Ngo Dinh Diem über die zukünftige amerikanische Hilfe zu verhandeln. Eines der Ergebnisse war ein militärisches Entwicklungs- und Testzentrum in Vietnam (CDTC) unter der Federführung des Pentagons. Es hatte zum Ziel, neue Methoden und Waffen für die Bekämpfung von Aufständen zu entwickeln. Eine der ersten Aufgaben bestand darin herauszufinden, wie weit Herbizide als Mittel der Kriegsführung taugen würden.

Im November 1961 segnete Präsident Kennedy jenes Programm ab, das unter den Decknamen „Trail Dust“ und „Operation Ranch Hand“ in die Geschichte eingegangen ist. Es ermöglichte in Südvietnam definitiv den Einsatz von Herbiziden. Das erklärte Ziel war die Entlaubung und letztlich Vernichtung der Wälder, die dem Widerstand zur Tarnung und als Versorgungswege dienten. Entlaubt wurden neben Wäldern aber auch Umgebungen von Militärbasen und Flugplätzen. Niedergespritzt wurden Flussufer. Vernichtet wurde Ackerland, um dem Gegner Nahrungsgrundlagen zu entziehen und so Bauern aus den vom Widerstand beherrschten Bezirken in regierungskontrollierte Gegenden und die sogenannten „Wehrdörfer“ zu zwingen.

Am 7. November 1961 wies Verteidigungsminister Robert McNamara den Vorsitzenden der Stabschefs und den Minister für Luftstreitkräfte an, in aller Eile Flugzeuge, Personal und Chemikalien bereitzustellen, um die fast reife Ernte in jenen Gegenden zu zerstören, in denen der Widerstand vermutet wurde.

> Hai Tam

Elmo R. Zumwalt, befehlshabender Flottenadmiral zur Zeit des US-Krieges in Vietnam und selbst Vater eines als Kriegsfolge missgebildet geborenen Sohnes, bezeichnete diesen Krieg als „den grössten experimentellen chemischen Krieg“. Keine 20 Jahre nach den Atompilzen über Hiroshima und Nagasaki wurden in Vietnam grossflächig Chemiewaffen ausprobiert.

2003 kam die Wissenschafterin Jeanne Stellman zum Schluss, dass der Chemiewaffeneinsatz noch erheblich umfangreicher war, als bis dahin – auch in Vietnam selbst – angenommen worden war. Im Magazin Nature vom April 2003 veröffentlichte sie die Forschungsergebnisse aus ihrer minutiösen Arbeit in den Archiven der Air Force. Zusammen mit ihrem Team der Columbia Universität hat sie während fünf Jahren aus den Bordbüchern der Piloten Fakten zusammengetragen. Neben dem exakten Wissen darüber, welche Substanzen wann und in welcher Menge über Vietnam versprüht wurden und welche Administration für welche Entscheide die politische Verantwortung trug, hat die Forschergruppe auch die Details der Ziele und Absichten ausgelotet. In minutiöser Kleinarbeit wurden Tausende von Flugplänen, Mengen und Art der verwendeten Herbizide mit geografischen Daten in Zusammenhang gebracht und so eine Karte der betroffenen Zonen erstellt, die weit präziser und aussagekräftiger war, als die bis dahin bekannten Angaben zu kontaminierten Gebieten.

Aufgrund dieser Forschungsresultate konnten die Orte und die Zahl der Menschen, die von den Sprühflügen betroffen waren, umfassender als bisher beziffert werden. 3181 Dörfer wurden durch die 77 Millionen Liter Entlaubungsmittel direkt besprüht. Angesichts der Tatsache, dass der Wind die Gifte noch über die anvisierten Ziele hinaus getragen hat, muss heute davon ausgegangen werden, dass in Vietnam bis 4,8 Millionen Zivilpersonen den Chemiewaffen unmittelbar ausgesetzt waren. Dazu kommen Menschen in den Grenzregionen von Laos und Kambodscha, die ebenfalls von den Sprühaktionen betroffen waren.

Die Auswertung der Bordbücher beweist im Weiteren, was Beobachtende schon lange festhielten: es ging den verantwortlichen Politikern und Militärs nicht allein um die Entlaubung der Ho Chi Minh-Piste, sondern auch um die Zerstörung der Nahrungsbasis, die Aushungerung des Feindes.

In den Nachrichten des Pressedienstes der UNO war nach der Veröffentlichung der Studie von Jeanne Stellman zu lesen, dass über 30 Jahre nach dem Versprühen von Agent Orange durch die US-Truppen in Vietnam die Gesundheitsschäden für die Kriegsveteranen und Familien wie auch für Hunderttausende Vietnamesinnen und Vietnamesen nach wie vor verheerend seien und die Geburtsschäden sich bereits in der dritten Generation manifestierten.

Die präzisen Fakten können die bis heute andauernden Ausflüchte über ungenügende wissenschaftliche Grundlagen zu den Zusammenhängen zwischen den versprühten Giftstoffen und deren medizinischen Folgen zu widerlegen.

In der bekanntesten dieser giftigen Substanzen, dem Agent Orange, wurde die fast unglaubliche Menge von 366 Kilogramm Dioxin über dem Süden Vietnams versprüht. Im Vergleich dazu: In Seveso waren es 250g Dioxin, die in die Umwelt gelangten.

Agent Orange/Dioxin ist für eine ständig wachsende Liste von Gebrechen verantwortlich, einschliesslich verschiedener Formen von Krebs, dem Geburtsschaden Spina Bifida (offene Wirbelsäule) und anderer Missbildungen, von Diabetes Typ 2, Schäden im Nervensystem, im Immun- und Hormonsystem und bei der Fortpflanzung. Was so seriösen vietnamesischen Wissenschaftern wie Prof. Le Cao Dai und seiner Forschergruppe nicht abgenommen wurde, wird heute von renommierten, international anerkannten Kollegen, die über ganz andere finanzielle Mittel und Laboreinrichtungen verfügen, bestätigt.

Das gleiche gilt für die Forschungen von Prof. Vo Quy und seinem Team, das in Bezug auf die Schäden an Flora und Fauna den Bergriff des Ökozids geprägt hatte. In manchen Gebieten, wo einst Regenwälder wuchsen, gibt es heute nur noch Gräser und Gestrüpp. Die Folge sind Erosionen, Überschwemmungsschäden und Erdrutsche.

Aufforstungsprogramme sind zwar im Gange, sind aber angesichts der Vergiftung des Bodens bedeutend langwieriger als unter normalen Umständen. All die über Jahre zusammengetragenen Forschungsresultate sagen aber eines nicht aus, das immer wieder behauptet wird: Es stimmt nicht, dass die US-Army nicht wusste, was sie tat. Die Warnungen kamen früh und für offene Ohren unüberhörbar: In den USA wurden erste Warnungen von Wissenschaftern, wonach Dioxin gesundheitsgefährdend sei, schon in den frühren 60-er Jahren, nach Beginn der Sprühaktionen laut. 1967 unterschrieben siebzehn Nobelpreisträger zusammen mit weiteren fünftausend Wissenschaftlern eine Petition an die amerikanische Regierung, die verlangte, die Gifteinsätze zu stoppen. Nichts geschah. Im Gegenteil, die Antwort aus dem Pentagon war, dass Dioxin nicht gefährlicher wäre als Aspirin.

Auch in der Schweiz gab es schon in jener Zeit Warnungen. Die Centrale Sanitaire Suisse, CSS, heute medico international schweiz, veröffentlichte eine Broschüre unter dem Titel „Vietnam: Dokumente über den chemischen und bakteriologischen Krieg“. Darin waren minutiös Berichte aus US- und anderen Quellen über diesen gefährlichen, höchst beunruhigenden Aspekt der Kriegführung zusammentragen.

Das Vietnamesische Rote Kreuz schätzt heute die Zahl der Opfer von Agent Orange / Dioxin auf 3 Millionen. Eine Zahl also, die etwa gleich hoch ist, wie jene der unmittelbaren Kriegstoten. Von den Kontaminierten der 1. Generation sind viele bereits gestorben, an Krebs oder anderen Krankheiten, die ihr geschwächter Körper nicht überstand.

Tausende der Kinder, die von dieser Kriegsfolge betroffen sind, brauchen lebenslange Pflege durch ihre Familien, die oft ohnehin schon von Armut und in vielen Fällen auch von weiteren kriegsbedingten Verletzungen und Krankheiten gezeichnet sind. Während die ersten über 40 Jahre alt sind, werden noch heute schwer geschädigte Kinder geboren.

Dass die sozialen Folgen eines Desasters solchen Ausmasses immens sind, versteht sich von selbst. Vietnam ist inzwischen zwar in der Lage, diesen Menschen eine ganz bescheidenen Rente zu bezahlen, aber dass diese ist nur ein Tropfen auf einen heissen Stein sein kann, ist auch klar.

Vietnam ist ein armes Entwicklungsland, das nach dem Krieg auch noch ein fast 20 Jahre dauerndes US-Embargo zu erleiden hatte. Zur Behebung der Langzeitschäden und zur Behinderten gerechten Betreuung der Opfer braucht es internationale Unterstützung.

Zehn Jahre lang hatte Vietnam versucht, mit Appellen an das humanitäre Gewissen der internationalen Gemeinschaft und insbesondere der USA Hilfe für die Agent Orange Opfer zu erhalten. 1999 setzte die Internationale Liga der Rotkreuz und Rothalbmond-Gesellschaften das Thema auf ihre Traktandenliste. Einige Rotkreuz-Gesellschaften und Hilfswerke sind daraufhin zu Gunsten der Opfer aktiv geworden, unter ihnen auch das Schweiz. Rote Kreuz. Als das US-Red Cross 170 Millionen Dollar bereitstellte, war die Hoffnung gross, dies wäre ein Durchbruch, allenfalls gar der Anfang von Kompensationen. Doch dem ist, zumindest bis heute, nicht so, obschon inzwischen eine Mehrheit der Bevölkerung in den USA der Meinung ist, dass für die Opfer des Vietnam-Krieges „etwas getan werden müsse“.

Am 30. Januar 2004 reichte eine Gruppe von Opfern und ihr Verein, die Vietnam Association of Victims of Agent Orange/Dioxin, kurz VAVA, beim Gericht des Staates New York gegen über drei Dutzend Chemiefirmen in den USA eine Zivilklage ein. Unter diesen Firmen sind erwartungsgemäss Dow Chemical, die auch Produzentin von Napalm war, und Monsanto. Die Klägerinnen und Kläger, unter ihnen die bekannte Ärztin Phan Thi Phi Phi, selbst Opfer und langjährige Forscherin auf dem Gebiet der Langzeitfolgen durch Agent Orange, verlangten in ihrer umfangreichen, sorgfältig erarbeiteten Anklageschrift für den Musterprozess Zahlungen an die Opfer, deren Gesundheit durch den Einsatz der Produkte der inkriminierten Firmen schwer geschädigt wurde. Die Anklage stützte sich auf die Gesetze zur Entschädigung von Ausländern aufgrund der Verletzung internationalen Rechts und die Produkthaftung. Brisant ist, wie die Bereicherung an den schädigenden Produkten als zusätzlich belastender, ethisch verwerflicher Faktor eingebracht wurde. Damit war eine neue Phase eingeläutet. Die Opfer bitten seither nicht mehr bloss um humanitäre Hilfe, sie fordern Gerechtigkeit.

Im März 2005 wurde die Klage abgewiesen mit der lapidaren Begründung, Agent Orange sei ein Herbizid und keine Chemiewaffe. In der Folge haben die KlägerInnen und ihre Rechtsvertreter Berufung eingelegt. Im sich lange hin ziehenden Verfahren haben am 18. Juni dieses Jahres die Anhörungen der Opfer vor der 2. Instanz der US-Justiz stattgefunden. Geäussert hat sich das Gericht seither noch nicht, doch letzten Monat sind zwei der zwei Mitglieder der Delegation, die in New York ausgesagt hatte, Nguyen Van Quy und Nguyen Thi Hong, an ihren Krebsleiden gestorben. Bis zum letzten Atemzug hatten sie all ihre Kräfte im Kampf um Gerechtigkeit eingesetzt. Wir teilen die Trauer ihrer Familien und Freunde.

Sowohl in Vietnam als auf internationaler Ebene ist eine grosse Solidarität mit den Agent Orange Opfern in Gang gekommen. Ungezählte Veranstaltungen und Geldsammlungen haben in Vietnam selbst stattgefunden. Nach Bekannt werden des erstinstanzlichen Urteils, ging eine Welle der Empörung durch das Land. Innert kürzester Zeit setzten 12,5 Millionen VietnamesInnen ihre Unterschrift unter eine Petition, die Gerechtigkeit für die Opfer forderte. Die internationale Petition haben gut 700’000 Personen unterzeichnet.

Am 29. April 1997 wurde in Paris die „Internationale Konvention über chemische Waffen“ (CIAC) unterzeichnet, die ein Verbot chemischer Waffen aussprach.

10 Jahre später haben die Freundschaftsgesellschaften mit Vietnam aus Belgien, Dänemark, Deutschland, England, Frankreich, Italien, Schweden, Spanien und der Schweiz gemeinsam beschlossen, den „Internationalen Aufruf von Juristinnen und Juristen zur Verantwortung der Vereinigten Staaten gegenüber Vietnam“ zu verbreiten und ihm Nachdruck zu verschaffen. Der Aufruf der sieben VölkerrechtlerInnen weist stringent die Verantwortung der USA gegenüber den Opfern ihrer chemischen Kriegsführung, aber auch gegenüber Vietnam als Land, das mit der Gesamtheit der Schäden konfrontiert ist, nach. „In Erwägung folgender Fakten…“ beginnt das minutiös recherchierte Dokument und kommt zum Schluss: „Durch die schlichte Tatsache, dass C123-Flugzeuge geschickt wurden, um unter Bruch der territorialen Integrität Pflanzengifte über den Wäldern eines fremden Landes zu versprühen, und dass durch diese Handlungen Verletzungen und Zerstörungen verursacht wurden, die gegen die Menschenrechte verstossen, wie immer auch der modus operandi gewesen sein mag, wurde ein illegaler Akt vollzogen, mit dem sich die Vereinigten Staaten selbst für die Folgen verantwortlich gemacht und damit die Pflicht auf sich geladen haben, diese Folgen zu beheben.“

Angesichts des Leides der Opfer und in der Überzeugung, dass ein wirklicher Friede sich erst dann entwickeln kann, wenn die Kriegsverbrechen gesühnt sind, rufen wir Sie dazu auf, den internationalen Aufruf der Juristinnen und Juristen mit zu unterzeichnen. Sie finden ihn auf dem Infotisch zusammen mit dem Buch, aus dem die eindrücklichen Fotos von Roland Schmid stammen, und andern Materialien der Vereinigung Schweiz-Vietnam.

Anjuska Weil

28. August 2007