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j u n g e  W e l t

Nichts ist „wertvoller als Unabhängigkeit und Gerechtigkeit“. Diese Worte Ho Chi Minhs sind der Leitfaden des Buches „Begegnungen – Geschichten in der Geschichte Vietnams“ von Anjuska Weil, das einen in dieser Form einzigartigen Einblick in den Befreiungskampf gegen das 1946 wiedererrichtete französische Kolonialjoch und das nachfolgende Besatzungsregime der USA im Süden gibt. Es kommen ganz unterschiedliche, inzwischen ältere und alte Menschen (nicht alle sind noch am Leben) zu Wort, die ihre Erlebnisse schildern. Das Buch zeigt auf mal poetische, mal nüchtern sachliche Weise, dass die Menschen Vietnams die Kraft für diesen Kampf auch aus einer Geschichte schöpften, in der sie sich „über die Jahrhunderte immer wieder aus Fremdherrschaft freikämpfen“ mussten. Dabei ist der Blick durchaus weit; Interessantes erfährt der Leser zum Beispiel über das Leben vietnamesischer Kontraktarbeiter in der französischen Kolonie Neukaledonien.

Die Autorin Anjuska Weil ist seit Jahrzehnten aktiv in der Solidaritätsarbeit für Vietnam und seit 1994 Präsidentin der Vereinigung Schweiz–Vietnam. 2006 wurde sie von Vietnam für 25 Jahre Engagement für die Leprakranken sowie 50 Jahre Vietnam-Solidarität mit der Freundschaftsmedaille ausgezeichnet.

Das Buch ist eine Frucht ihrer langjährigen Begegnungen mit den Menschen Vietnams. Sie erzählt, was diese in schweren Zeiten des Landes erlebt und erlitten haben, wie sie sich engagierten, was ihr Beitrag war, welchen Blick sie auf die Ereignisse jener Zeit hatten. Auf einer dieser Reisen notierte Weil im Januar 1986: „Aus dem Flugzeug sehe ich deutlich die Bombenkrater, Wunden des Krieges auf der Erde Vietnams, Wasserlachen, wie tote Spiegel. Ob sich eines Tages Fische darin tummeln? Ob die Jahre des Friedens sie dem Reisfeld wiedergeben? Ob Kinder eines Tages Blüten auf die Narben streuen?“

Die Erzählungen widerspiegeln Lebenswege ohne Pathos, in der bescheidenen Art von Menschen, die enorm viel leisteten, das aber schlicht als ihre Aufgabe gesehen haben und noch heute so sehen. Es sind Geschichten über die Befreiung Vietnams, über den Umgang mit menschlichem Leiden und einem Alltag der Entbehrungen, die durch gut ausgewählte Porträts ergänzt werden. Die Autorin berücksichtigt, dass das Gedichteschreiben in Vietnam eine alte Tradition als Ausdrucksform für Gefühle ist, die heute noch in der Schule gelehrt und gelernt wird, und das hat, wie sie meint, „in schweren Zeiten und Situationen immer wieder geholfen, mit der Realität umzugehen.“

Die Gedichte in diesem Buch sind nicht von bekannten Autoren verfasst, sondern in diesem Sinne von „Alltagspoetinnen und -poeten“ – wie dem Cyclofahrer Bui Huu Tran in Hué, der über sein Leben schrieb:

„Wie ein Salzkorn sich im Wasser
Löse ich mich auf in diesem Leben
Trete in die Pedalen meines Cyclos
Tag für Tag
Transportiere Überzeugungen
Orangen und Lachen.“

Gleich zu Beginn steht ein Wiegenlied, das die Großmutter ihrem Enkelkind singt:

„Schlaf ein, mein Kleines, sorg dich nicht
Siehst du den Mond?
Er scheint auch auf den Dschungelpfad
Dort, wo deine Mutter ist
Dort, wo dein Vater ist
Schlaf, mein Kleines, sorg dich nicht.“

Die Lehrerin Ho Thi The Tan erzählt: „Wir hatten keinerlei Unstimmigkeiten mit den Kommunisten, der Patriotismus stand im Vordergrund. Meine Onkel waren keine Kommunisten, sie verstanden sich als Intellektuelle, die immer an der Seite von Ho Chi Minh waren, vereint in der Sache für das Land, und es war gut so.“

Ho Dac Diem erzählt, wie er 1946, als Frankreich sich anschickte, die von Ho Chi Minh im September 1945 ausgerufene Demokratische Republik Vietnam zu beseitigen, vor der Entscheidung stand, im „komfortablen Abwarten zu verharren und zu schauen, wie die Ereignisse sich entwickeln würden“ oder dem Aufruf Ho Chi Minhs zu folgen und die Unabhängigkeit zu verteidigen. „Doch ich bin“, schreibt sie, „wie viele andere im Dezember 1946 aufgebrochen, um mich dem Widerstand des Viet Minh anzuschließen und meine Pflicht gegenüber meinem Land zu erfüllen“. Und sie fährt fort: „Wenn ich zurückdenke, danke ich dem Schicksal jedes Mal dafür, dass es mir erlaubt hat, diese Zeit des Widerstandskampfes zu erleben.“

Erzählt wird von „Zeiten des Mangels“, in denen jeder ein „Reisbüchlein“ hatte, wie die Lebensmittelkarten genannt wurden. 13 Kilogramm Reis war die Mindestration für einen Erwachsenen ohne Qualifikation. Bergarbeiter, Schmiede, Lkw-Fahrer und andere Schwerarbeiter kamen bis zu 21 Kilogramm. Am 9. August 1964, nachdem die USA den Luftkrieg gegen Nordvietnam begonnen hatten, erließ der kommunistische Jugendverband einen Appell mit dem Titel „Die drei Bereitschaften“. Die besagten, noch nicht zu heiraten und keine Kinder zu haben, das Elternhaus nötigenfalls zu verlassen, um die Kämpferinnen und Kämpfer des Südens mit Nachschub zu versorgen oder an ihrer Seite am Kampf gegen die US-Invasoren teilzunehmen. Schon in den ersten Tagen meldeten sich 26.000 junge Menschen, „um kundzutun, dass sie bereit waren, alles zu geben, um der amerikanischen Aggression entgegenzutreten“.

Wenn Anjuska Weil im Vorwort schreibt, „diese Menschen haben es verdient, vom Alltag nicht überrollt und vergessen zu werden“, dann steht dafür auch das Gedicht „Für meine gefallenen Genossen“, in dem es heißt:

„Mein Gott, so viel verdanken wir ihnen!
Das Herz voller Poesie
Erkaltet über die Zeit
Ergriffen denke ich an sie, meine gefallenen Genossen.“

Der Historiker Dr. Gerhard Feldbauer war Kriegsberichterstatter in Vietnam. Seine Buchbesprechung ist leicht gekürzt.

Buch gebunden, 200 Seiten, ISBN 978-3-033-09524-3.
Preis CHF 28.-
Bestellungen bei info@vsv-asv.ch oder direkt bei der Autorin a.weil@sunrise.ch